Samstag, 10. Dezember 2011

Computer rekonstruiert Filme aus Gedanken


Das Experiment ist spektakulär, das Ergebnis gespenstisch: Forscher haben erstmals allein aus der Gehirnaktivität Filme rekonstruiert, die Testpersonen zuvor gesehen hatten. Ist das der Durchbruch zum Gedankenlesen?
 ie Vorstellung ist faszinierend und bedrohlich zugleich: Maschinen, die in der Lage sind, menschliche Gedanken zu lesen. In Ansätzen ist das bereits möglich. So konnten Forscher anhand von Hirnströmen zumindest rudimentär erfassen, woran Testpersonen gerade dachten - etwa an Worte wie "ja", "nein", "Durst" oder "Hunger".
 Jetzt ist Wissenschaftlern ein noch weit spektakulärerer Coup gelungen: Sie haben allein anhand der Hirnaktivität rekonstruiert, welche Bilder Menschen gesehen haben. "Das ist ein großer Sprung hin zu einer Rekonstruktion der inneren Bilderwelt", sagt Jack Gallant von der University of California in Berkeley, in dessen Labor das Experiment stattfand. "Wir öffnen damit ein Fenster in die Filme unseres Geistes."
Die Forscher erfassten zunächst die Aktivität im Sehzentrum von Probanden, während diese sich mehrere Stunden lang Filme ansahen. Dazu nutzten sie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI). Dieses Verfahren zeigt, wo im Gehirn besonders viel Blut fließt. Allerdings hinkt der Blutfluss der eigentlichen Verarbeitung der visuellen Reize im Hirn immer einige Sekunden hinterher. Deshalb galt es zuvor als prinzipiell unmöglich, dynamische Hirnaktivität aus fMRI-Daten herauszulesen.
Deshalb haben die Forscher die Aufnahmen mit einem lernfähigen Modell kombiniert. Für eine fMRI-Aufnahme wird das Gehirn in der Regel in winzige Würfel, sogenannte Voxel, unterteilt. "Wir entwickelten ein Modell für jedes Voxel", sagt Gallants Kollege Shinji Nishimoto. Das Modell beschreibe in einer ersten Stufe die schnellen Reaktionen des visuellen Systems. In einer zweiten Stufe berechne es, wie diese Aktivität den Blutfluss im Hirn verändert. Am Ende habe die Software gewusst, wie die Formen und Bewegungen aus dem Film in jedem einzelnen Würfel in Gehirnaktivität umgewandelt werden.
Computer interpretiert Signale des Gehirns
Danach folgte der eigentliche Test: Die Testpersonen sahen sich neue Filme an, die sich von dem Material des ersten Durchlaufs komplett unterschieden. Allein auf Basis der Daten zur Gehirnaktivität rekonstruierte das Programm die gesehenen Filmszenen. Es griff dazu auf einen Pool aus 18 Millionen Sekunden willkürlich ausgewähltem YouTube-Material zurück und suchte nach Filmszenen, die den zuvor gelernten Hirnaktivitätsmustern am ehesten entsprachen. "Es interpretiert die neuronalen Signale", sagt Nishimoto, Erstautor der Studie, die im Fachblatt "Current Biology" erschienen ist.
Die hundert am besten passenden Szenen verschmolz der Computer am Ende zu verschwommenen, aber bewegten Rekonstruktionen der von den Probanden gesehenen Filmszenen. Es ist ein teils gespenstisch wirkender Einblick in die Innenwelt des Geistes.

Noch sei die Technologie weit davon entfernt, tatsächlich Gedanken lesen zu können, betonen die Forscher. Aber bereits jetzt seien praktische Anwendungen denkbar: So könne ein solches Programm zukünftig Schlaganfallspatienten oder anderen Menschen, die durch eine Krankheit gelähmt sind, bei der Kommunikation mit der Umwelt helfen.
Die zentrale Frage aber lautet: Werden Computer eines Tages in der Lage sein, dem Gehirn auch die Bilder aus Erinnerungen und Träumen zu entreißen? "Ich glaube, dass das möglich sein wird", sagte Gallant SPIEGEL ONLINE. "Das ist nur eine Frage der Zeit." Die Grenzen bestünden derzeit nur in der Qualität der Hirnaktivitätsmessungen und der Computermodelle sowie in der Rechenkapazität.
"Das ist erst der Anfang"
Wie schnell diese Hürden fallen könnten, zeigen schon die Fortschritte, die Gallants Team allein in drei Jahren gelungen sind. 2008 stellten die Forscher im Wissenschaftsmagazin "Nature" das Grundgerüst für die Modellierung der Daten vor. Im Jahr darauf veröffentlichten sie im Fachblatt "Neuron" erstmals die Rekonstruktion statischer Bilder anhand von Hirnmessungen. Jetzt, nur zwei Jahre später, ist das Team bei Videos angelangt.
"Diese Arbeit ist beeindruckend", sagt Robert Turner, Direktor der Abteilung Neurophysik am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, der an der aktuellen Studie nicht beteiligt war. Besonders bemerkenswert findet er, wie Gallants Team mit dem Problem der Zeitverzögerung des fMRI-Verfahrens umgangen ist - nämlich indem es die Software mit YouTube-Videoclips arbeiten ließ.
"Unser Gehirn lernt auch nicht in jedem Moment alles neu", erklärt Turner. "Sinnesreize sind eher Updates für Szenarien, die uns bereits bekannt sind." Die Methode der kalifornischen Forscher funktioniere ähnlich - und habe es ermöglicht, erstmals natürliche Filme anhand von Hirnmessungen zu rekonstruieren. Das sei ein großer Fortschritt, meint Turner. "Und es wird noch weitergehen. Das ist erst der Anfang."
"Es wird möglich sein, Gesehenes zu visualisieren"
 Der Neurowissenschaftler Rainer Goebel von der Universität Maastricht bezeichnet Nishimotos Studie als "Weiterführung früherer Arbeiten, die insgesamt sicher als Durchbruch bezeichnet werden können". Allerdings sieht er darin noch nicht den prinzipiellen Beweis, dass Gedanken sichtbar gemacht werden können. Denn die Bilder seien durch direkte Stimulation von außen - in diesem Fall durch Filme - gewonnen worden. Von Visualisierung der Gedanken könne man erst sprechen, wenn dies durch interne Prozesse, etwa die mentale Vorstellung von Bildern, gelänge.
Nishimoto betont: "Unsere natürliche visuelle Erfahrung gleicht dem Sehen eines Films." Um die Bilder aus dem Gehirn auszulesen, müsse man daher erst einmal die grundlegenden Gehirnprozesse beim Verarbeiten solcher bewegten Bilder verstehen.
Genau daran arbeiten Forscher weltweit. Goebel etwa hat nach eigenen Angaben von der EU Fördermittel und den Auftrag erhalten, in den nächsten fünf Jahren den "funktionellen Code des Gehirns zu knacken". Man werde hochaufgelöste Hirnbilder unter anderem mit neuronalen Netzwerkmodellen kombinieren, um herauszufinden, wie kleinste Strukturen im Denkorgan funktionieren. Das Gedankenlesen sei zwar nicht das Hauptziel. "Aber mit dieser Forschung", sagt Goebel, "wird es auch möglich sein, Gesehenes - und wahrscheinlich sogar Vorgestelltes - zu visualisieren."
(Quelle:  http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,787867,00.html)

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